Der automobile Rennsport rechtfertigt sich gerne damit, dass dank ihm High-Tech-Entwicklungen in die Serienfertigung von Alltagsprodukten einfliessen. Bei Ulysse Nardin ist es tatsächlich so, dass erst die Entwicklung des Freak und das damit verbundene Engagement in der Entwicklung von Werkbestandteilen aus Silizium das neue Basiskaliber UN-118 möglich machten. Seit vielen Jahren ist man dran, jetzt ist es serienreif.
„Is` ja nur ein ETA“ war immer wieder die schnöde Bemerkung, vornehmlich in deutschen Uhrenforen, wenn es um gewisse Modelle von Ulysse Nardin ging. Das war natürlich – meist aus schlichter Unkenntnis – reichlich deplatziert, und es brachte Ulysse Nardin-Patron Rolf Schnyder regelmässig in Rage, denn die Le Locler Uhrenmanufaktur stellt seit vielen Jahren sehr viele Komponenten ihrer Uhrwerke selber her. Bei den Uhren, die in grösseren Stückzahlen produziert werden, wie beispielsweise dem meisten Modellen der Marine-Kollektion, setzte man aber noch auf Basiswerke von ETA, die allerdings meistens sehr stark modifiziert und um viele eigene Komponenten ergänzt wurden.
Freak „Diamond Heart“ mit Hemmungsteilen aus reinem Diamant
Unbestritten in der Branche ist die Führungsposition von Ulysse Nardin bei der Verwendung neuer Werkstoffe in der Uhrenherstellung, die ihren Anfang nahm mit der „Dual Direct“-Hemmung im legendären „Freak“, der 2001 vorgestellt wurde. Diese Hemmung zeichnete sich durch Teile aus, die mit herkömmlichen, spanabhebenden Verfahren und Materialien gar nicht produziert werden konnten. Es waren die Komplexität der Formen und vor allem die Anforderungen an minimalstes Gewicht, die die Tüftler bei Ulysse Nardin auf den Werkstoff Silizium brachten. Dank des beim „Freak“ erarbeiteten Wissens waren später das Kaliber 67 der Sonata Silicium möglich, der ersten Uhr von Ulysse Nardin, die komplett eigenständig im Unternehmen entwickelt und gefertigt wurde, sowie 2006 das Kaliber 160.
Das Kaliber UN-118
Das präsentierte neue Kaliber 118 ist der erste Vertreter aus einer neuen Familie von Uhrwerken, die schrittweise den meisten Uhren von Ulysse Nardin als Antriebsquelle dienen werden. Eine stattliche Anzahl ist seit mehreren Monaten im internen Testbetrieb. Wer mit Ulysse Nardin-Mitarbeitern spricht, kriegt an deren Handgelenken gelegentlich eine ganz „normal“ aussehende Uhr aus der Marine-Serie zu sehen, die beim Umdrehen durch den Glasboden das neue Werk zeigt. Die Praxistests scheinen gut zu verlaufen, jedenfalls schwärmen alle Träger dieser Testuhren davon in höchsten Tönen. Und dies nicht, weil sie das aus Loyalität müssten, sondern weil sie ganz offentichtlich davon überzeugt sind.
Die patentierte Hemmung aus DiamonSil ist darin gemeinsam mit dem ebenfalls intern hergestellten Hemmungsrad mit einer Spirale aus Silizium zu finden. Dieses bereits in der Sonata Silizium erstmals eingesetzte Hemmungsrad kann mit vier Schrauben sehr präzise feinregliert werden.
Die Hemmungspartie des Kaliber UN-118
Die Hemmung des Kaliber 118 wird in Zusammenarbeit von Ulysse Nardin und Sigatec in Sion gefertigt. Ulysse Nardin ist an Sigatec wesentlich beteiligt. Das Unternehmen hat eine einzigartige Stellung, denn es ist in der Lage, Hochpräzisionskomponenten sowohl aus Silizium und auch aus DiamonSil zu fertigen. Es beliefert neben der Uhren- auch die Medizinaltechnik und die Biotechnologie.Für die Entwicklung dieser Nanotechnologie gingen viele Jahre ins Land.
Höchste Präzision bei kleinsten Teilen – möglich dank neuen Produktionsverfahren
Bei der Hemmung einer Uhr hat die Leichtigkeit einen grossen Einfluss auf die Leistung. Mehrere Komponenten, darunter der Anker und das Drehteil, werden viermal pro Sekunde beschleunigt und wieder gestoppt. Mit weniger Gewicht lässt sich hier folglich viel Energie sparen. Silizium ist rund dreimal leichter als herkömmliche Materialien.
DiamonSil ist eine revolutionäre Verbindung aus Silizium und synthetischem Diamant. Das Material könnte einmal zum Heiligen Gral der Uhrenkomponenten werden: Es ist extrem leicht und gleichzeitig so hart, dass praktisch keine Reibung entsteht. Damit kann auf Schmierstoffe für die Hemmung komplett verzichtet werden. Es kam bereits bei der Konzeptuhr „Innovision“ zum Einsatz sowie, erstmals in Serie, beim Freak DiamonSil. Für DiamonSil werden die Teile zuerst aus Silizium hergestellt und dann mit dem CVD-Verfahren (steht für Chemical Vapor Deposition) mit einer Diamantschicht überzogen. Dies geschieht in einer speziellen Reaktionskammer, in der eine Temperatur von höllischen 2300 °C herrscht.
DiamonSil – eine hauchdünne Schicht von synthetischem Diamant auf Silizium
Aber auch bezüglich der „normalen“ Eigenschaften eines vielseitig einsetzbaren Basiswerks hat man in Le Locle die Hausaufgaben gemacht. Das neue UN-118 verfügt über eine beachtliche Gangreserve von 60 Stunden, dies mit nur einem Federhaus. Ein cleveres System des Datumskorrektors erlaubt es, das Datum sehr rasch sowohl vorwärts als auch rückwärts zu verstellen. Das Werk ist, wie man es auf diesem Niveau erwarten darf, mit Genfer Streifen, Genfer Kreisschliff, Perlierung und Feinschliffen finissiert. Mit 31,60 mm Durchmesser und einer Gesamtdicke von 6,45 mm gehört es nicht zu den ultrafeinen Kalibern. „Dafür ist das Kaliber robust und hat sehr viel Kraft, wir können also damit in Zukunft verschiedene Zusatzfunktionen antreiben“ schwärmt Pierre Gygax, seit vielen Jahren technischer Direktor von Ulysse Nardin und einer der ganz grossen Kenner dieser neuen Technologien.
„Unser Leitgedanke, Uhrwerkstechnologie im eigenen Unternehmen zu entwickeln, gibt Ulysse Nardin die Chance, bei der Qualität eigene Massstäbe zu setzen. Ulysse Nardin setzt sich ein für Innovationen, die die Branche in die Zukunft bringen und für die Entwicklung von mechanischen Zeitmessern, die für die zukünftigen Generationen zu wertvollen Erinnerungsstücken werden“ erläuterte Rolf Schnyder noch kurz vor seinem unerwarteten Hinschied die Motivation für die grossen Investitionen in Forschung und Entwicklung.
Das Kaliber UN-118 von der Zifferblattseite aus gesehen
Explosionszeichnung des Kaliber UN-118
Explosionszeichnung des Kaliber UN-118
Ungewohnter Anblick: Hemmungsräder auf einem Wafer
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