Muss man Jörg Hysek noch vorstellen? Nicht wirklich. Der 1953 in Ostberlin geborene Hysek gilt als einer der erfahrensten und kreativsten Designer der Uhrenbranche. Mit der Slyde stellt er ein Produkt vor, das es so noch nicht gibt.
Rolex, Cartier, Ebel, Omega, Tiffany, Vacheron Constantin, Breguet (die „Marine“ trägt seine Handschrift), Seiko (Arctura-Serie), Tag Heuer (Kirium) – die Stationen seiner Karriere lesen sich wie ein „Who is who“ der Uhrenwelt. Auch eine legendäre Schreibgeräteserie und andere Gegenstände des Alltags gestaltete der unermüdliche Designarbeiter. 1999 gründete er folgerichtig seine eigene Uhrenfirma unter „Jorg Hysek“ – die Umlaute mussten der Internationalität weichen. Auch Hysek erfuhr das Schicksal, aus der Firma mit dem eigenen Namen auszutreten, dieser Schritt erfolgte 2006, unter einigem Getöse. Er ist damit in bester Gesellschaft mit anderen grossen Uhrengestaltern: Gérald Genta, Daniel Roth, Rodolphe Cattin, Martin Braun, Roger Dubuis – um nur einige Namen zu nennen – ging es ähnlich: auch ihre Firmen bestehen noch, aber sie haben damit nichts mehr zu tun.
Neuland: Die Slyde wechselt ihre Anzeige mit einem Fingerwisch
Mit zwei seiner damaligen jungen Teammitglieder Valérie Ursenbacher und Fabrice Gonet gründete Hysek in der Folge die Firma HD3 Complication, die mit Aufsehen erregenden Komplikationen in Erscheinung trat. Raptor und Capture hiessen die Entwürfe von Gonet und Ursenbacher. Hysek selbst gestaltete die Modelle Idalgo XT-1 und XT-2. Alle diese Uhren waren sehr komplex, die Werke realisierte die unterdessen Konkurs gegangene Komplikationsspezialistin BNB Concept. Die Preise lagen entsprechend im sechsstelligen Frankenbereich. Die Designs und Umsetzungen waren ihrer Zeit voraus.
Auch der Zeit voraus dürfte ein vollkommen neuartiges Konzept sein, das Hysek im Januar 2011 an der Geneva Time Exhibition vorstellte, der gemeinsamen Ausstellung von kleinen, innovativen Firmen aus der Branche, die während der grossen Richemont-Sause SIHH in Genf durchgeführt wird. Slyde heisst die Uhr mit Kultpotential, die für äusserst kontroverse Diskussionen sorgte. Denn neben der Slyde sehen alle anderen Uhren im wörtlichsten Sinn alt aus. Wie soll man sie beschreiben? Eine elektronische Luxusuhr? Mit Elektronik in einem höheren Segment Fuss zu fassen, haben schon einige versucht, mit unterschiedlichen Erfolgen. Aber immer blieb es dabei bei mehr oder weniger originellen digitalen Anzeigen. Hysek fusioniert nun Elektronik mit Mechanik, virtueller Mechanik wohlgemerkt.
Das Gehäuse ist typisch Hysek. Aus Titan, aufwändig konstruiert, markante visuelle Elemente, moderne, harmonisch geformte Anstösse. Ein stark gewölbtes Saphirglas, ein perfekt integriertes Kautschukband. Das Bild mit der Explosionszeichnung zeigt, wieviel Aufwand da betrieben wird. Das Ganze wirkt nicht nur wie aus einem Guss, es ist es.
Wirklich spannend wird es aber beim Innenleben. Es ist ein vollelektronisches Modul, das ein wenig an ein Apple-Produkt erinnert – Steve Jobs würde vielleicht solche Uhren entwickeln lassen, wenn er denn davon etwas verstehen würde. Ein schickes elektronisches Teil in eine hochwertige Uhr einzubauen ist zwar ungewöhnlich, aber als solches noch nicht völlig revolutionär. Wo sich aber Hysek von allen anderen bisher da gewesenen Konzepten unterscheidet, ist bei den Inhalten. Weil Hysek und seine Crew viel Erfahrung haben im „ganzheitlichen“ Design von Uhren, also in der visuell vereinten Kombination von Gehäuse UND Werk, bringen sie nicht einfach banale Zeigeranzeigen auf das Display. Im Gegenteil: Sie ziehen designmässig alle Register ihrer Kreativität und setzen sie virtuos virtuell um, mit Hilfe von CAD-Technik.
Mit einer Berührung des Bildschirms, „touch“-mässig, wird die Anzeige aktiviert. Die Zeit wird mit virtuellen Rollen angezeigt, Zahnräder und Getriebestangen bewegen sich, ein Sekundenrad dreht. Das Ganze in einer verblüffenden Schärfe, mit einer grossartigen Tiefenwirkung, gekonnt durch perfekte Licht- und Schattenregie inszeniert. Mit „Slide“-Bewegungen, wie man sie beispielsweise vom iPhone und seinen Klonen kennt, gelangt man zum nächsten Modul – der Kalenderanzeige. Auch hier ein ähnliches Bild von virtuellen Rollen und Zahnrädern.
Richtig „nouvelle horlogerie“ wird es dann bei der Hysek’schen Interpretation der Mondphasenanzeige. So kann das Resultat sein, wenn begnadete Uhrendesigner Inhalte für einen Bildschirm kreieren. Hysek ist aber nicht der Versuchung erlegen, viele zusätzliche Funktionen wie Telefon oder Musikplayer zu integrieren. Das ganze solle eine Uhr sein, nicht ein weiteres Multifunktionsgerät, dessen Funktionen man nur mit einer Ingenieursausbildung ergründen kann. Einzig eine reichlich ausgebuffte Kalenderfunktion mit der Möglichkeit, die noch verbleibenden Tage bis zu relevanten Daten wie Hochzeitstage einzugeben, wurder reingepackt.
Auf der Seite des Gehäuses zeigen fünf gestylte Leuchtdioden den Ladezustand der Uhr an.
Im Prinzip sollte sie eine Autonomie von ca. 10 Tagen haben. Es ist aber zu befürchten, dass es weniger ist, denn man wird als „Slyde“-Träger nicht darum herumkommen, wegen des enorm hohen Toy-Faktors ständig damit herumzuspielen und (man ist ja „unter Männern“) die Funktionen auch herumzuzeigen. Schwierig, sich der Faszination zu entziehen. Wenn der Akkuinhalt zur Neige geht, muss die Uhr auf die Ladestation, so wie man das von seinem Smartphone kennt.
Einer der wirklich faszinierenden Punkte am ganzen Konzept ist die Möglichkeit, die „Slyde“ mit Updates zu versehen. „Wir haben noch viele Designideen, die wir nach und nach umsetzen werden“ sagt uns Hysek im Gespräch. „Und natürlich wird man diese Anzeigen dann auf unserer Webseite herunterladen können. Denkbar ist auch, dass andere Uhrendesigner ihre Entwürfe für die „Slyde“ umsetzen und anbieten. Nur wer sich mit Zeitanzeigen und Werkskonstruktionen intensiv befasst hat, wer also „aus der Branche“ ist, kann auch wirklich hochwertige Uhrendesigns für unser Konzept entwickeln.“ Wir wagen uns mal vorzustellen: Ein virtueller „Freak“ von Ulysse Nardin? Eine „Cabestan“ von Jean-François Ruchonnet? Eine Monaco V4? Eine „Urwerk“ von Felix Baumgartner? Das dürfte wohl an den Eifersüchteleien unter den Marken scheitern. Aber begnadete Designer gibt es, und auch solche, deren Entwürfe in „Krisenzeiten“ niemand umsetzen mag, weil sie zu komplex für die Umsetzung mit realen Zahnrädern und Teilen sind. Die „Slyde“ wird also auch zu einer perfekten Spielwiese für Uhrendesigner.
In den Gängen der Time Exhibition treffen wir auf Kalust Zorik, den Leiter der „Journées Internationales du Marketing Horloger“ in La Chaux-de-Fonds, einer jährlich stattfindenden, viel beachteten Branchentagung, die stets einen thematischen Schwerpunkt setzt. Wir sprechen ihn auf das „Slyde“-Konzept an. Er teilt unsere Faszination mit leuchtenden Augen und erzählt uns, dass ihm Hysek schon vor fünf Jahren davon schwärmte, insbesondere auch von den auswechselbaren Anzeigen. Zorik entkräftet somit den leisen Verdacht, dass Hysek einfach ein weiterer Kopist von Apples AppStore-Konzept wäre. „Damals war er der Zeit einfach noch zu viel voraus – jetzt ist es zwar immer noch sehr avantgardistisch, aber wohl der richtige Zeitpunkt, die Uhr zu lancieren. Zudem haben sich auch die technischen Möglichkeiten noch zu Gunsten solcher Konzepte entwickelt“.
Die „Slyde“ wird offiziell an der Baselworld präsentiert. Der Preis wird sich bei ca. CHF 5200.- bewegen – für die ebenfalls vorgesehenen Modelle mit Goldelementen wird er natürlich höher liegen.
Link: Einen Vorgeschmack auf die Slyde finden Sie auf der Website von HD3 Complications